goldleseprobe
«Gold auf Lapislazuli» – Leseprobe
Ursprünge
1
Sumerisches Gebet
Bevor das Schweigen erwachte,
bevor die Zeit vom Raum träumte,
bevor die Wirklichkeit die Fahne der Trauer nahm,
war die Erde eine Knospe im Wort
und suchte der Himmel seine ewige Farbe.
Alles war vom Anfang erfüllt,
während du am andern Ufer des Schicksals standest
und auf seine Lippen ein Lächeln maltest.
Fais Yaakub al-Hamdani, geb. 1968
Aus dem Arabischen von Andrea Haist, 2005
2
Enkidu/Gilgamesch
Enkidu
Mit Gazellen frisst er Gras.
Mit Herdentieren drängt er sich an der Wasserstelle,
mit wilden Tieren labt er sich am Wasser.
Es sah ihn die Schamchat, ihn, den Ur-Menschen,
den mörderischen Burschen aus dem Innersten der Steppe.
«Das ist er, Schamchat, entblöße deine Brust!
Öffne deine Scham, auf dass er deine Reize nehme!
Schrecke nicht zurück, nimm seinen Atem hin!
Er wird dich sehen und sich dir dann nähern.
Breite deine Kleider aus, auf dass er auf dir liege.
Wirke an ihm, an ihm, dem Ur-Menschen, mit den Künsten des Weibes!
Seine Liebe wird dich umschmeicheln.
Fremd wird ihm seine Herde dann sein, in deren Mitte er aufwuchs.»
Da löste Schamchat ihr Untergewand.
Sie öffnete ihre Scham, und er nahm ihre Reize.
Nicht schreckte sie zurück, seinen Atem nahm sie hin.
Sie breitete ihre Kleider aus, und er lag dann auf ihr.
Sie wirkte an ihm, dem Ur-Menschen, mit den Künsten des Weibes.
Seine Liebe umschmeichelte sie da.
Sechs Tage und sieben Nächte stand Enkidu aufrecht und paarte sich mit Schamchat.
Gilgamesch setzte sich seine Krone aufs Haupt.
Wegen der Schönheit des Gilgamesch erhob die Fürstin Ischtar da die Augen.
«Komm doch her, Gilgamesch, du, sei Bräutigam!
Mir schenke, ja schenke deine Früchte!
Du, sei mein Mann, und ich will deine Gattin sein!
Einen Wagen will ich dir anspannen lassen aus Lapislazuli und aus Gold,
dessen Räder golden und dessen Hörner aus Elektron sind!
Dir seien die «Sturm-Löwen» angeschirrt, die großen Maultiere! –
Tritt ein in unser Haus im Wohlgeruch der Zeder!
Wenn du unser Haus betrittst,
sollen Türschwelle und Thronsitz dir die Füße küssen!
Auf den Knien liegen, dir zu Füßen, sollen Könige, Mächtige und Fürsten!
Allen Ertrag von Berg und Land sollen als Tribut sie dir entgegenstrecken!
Drillinge sollen deine Zicken, Zwillinge deine Mutterschafe werfen!
Dein Eselsfohlen soll noch unter Lasten das Maultier überholen!
Was deine Pferde vor dem Wagen anbetrifft, sei voller Stolz ihr Traben!
Deinem Rinde unterm Joch soll kein zweites gleichkommen können!»
Gilgamesch-Epos des Sin-leqe-unnini, um 1200 v. Chr.
Aus dem Assyrischen von Stefan M. Maul, 2005
3
Die Eine, geliebte, die ohnegleichen,
schöner als alle Frauen,
sie ist wie die Sternengöttin, welche erglänzt
zu Beginn eines guten Jahres.
Strahlend an Kraft, mit blendender Haut,
mit leuchtendem Blick im Auge,
mit süßen Lippen beim Sprechen,
nie hat sie ein Wort zuviel.
Mit schlankem Hals und blendender Brust,
Lapislazuli ist ihr Haar,
ihre Arme purer als Gold,
ihre Finger voll Anmut wie Lotos.
Lang gestreckt die Lenden unter gegürteter Mitte,
ihre Schenkel führen ihre Schönheit fort.
Edel ist ihr Gang, setzt sie den Fuß auf den Boden:
Mit jedem Gruß raubt sie mein Herz.
Sie lässt alle Männer den Hals sich verdrehen,
sobald sie in Sicht kommt.
Jeder ist glücklich, den sie grüßt,
er wird erhoben unter den Liebenden.
Man blickt ihr nach, wenn sie entschwindet,
wie jener, der Göttin, der Einen.
Sprüche der großen Herzensfreude, um 1140 v. Chr.
Aus dem Altägyptischen von Emma Brunner-Traut, 1974